Die Tschäggättä

Tschäggättä gibt es nur im Lötschental.
Ihr Ursprung mag mit anderen Bräuchen (nicht nur des Alpenraumes) in urheidnischer Zeit zu suchen sein, aber dieser Brauch unterscheidet sich stark von allen, mit denen er manchmal in einen Topf geworfen wird. Tschäggättä sind auch keine Chimären, wie Uninformierte ab und an äussern!

Bei einer "Tschäggätta" handelt es sich um eine wild verkleidete Gestalt, zu deren wichtigstem Merkmal die Maske gehört. Verkleidete ohne die entsprechende Maske werden "Fuigi", "Ootschi" oder "Hibschi Liit" genannt.

Als "Tschäggätta" (Plural: "Tschäggättä") wird die ganze Gestalt, und nicht – wie oft fälschlich angenommen – nur die Maske, bezeichnet. Sie ist bekleidet mit umgestülpten Kleidern (das Futter nach außen) und behängt mit zwei Ziegen- oder Schaf-Fellen, die, über den Schultern zusammengenäht, durch einen Gürtel gehalten werden. Unter das Fell auf dem Rücken wird meist noch ein Kissen mit Stroh gesteckt, das die Tschäggätta noch größer, massiger und oft buckelig erscheinen lässt. Der Gürtel ist meist das "Halsband" einer Kuh, an dem eine große "Trichla" (Kuhglocke) hängt. Die Hände stecken in "Triämhändschen", die Füße in alten Säcken, der Kopf ist hinter der grossen Arvenholz-Maske verborgen. Ein mannshoher Stock vervollständigt die Gestalt.

Das Tschäggättun, der Tschäggätta-Brauch, darf – nach alter Sitte – nur vom katholischen Feiertag Mariä Lichtmess (2. Februar) an bis zum Aschermittwoch, und nur von ledigen Männern ausgeübt werden (und an Letzteres wurde sich wohl auch bis in die zweite Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts gehalten).

An Mariä Lichtmess wurden die 'kostbaren', meist aus Arvenholz selbstgeschnitzten, oft mit Kuhzähnen, manchmal auch mit Gamshörnern oder ähnlichem versehenen, teils bemalten Larven (Masken) und die alten "Tschopen" (Schaf- und Ziegenfelle) und "Triämhändschen" (Handschuhe aus Garnresten, die im Weberkamm übrig bleiben) aus den Verstecken geholt und für den ersten "Luf" (Lauf) vorbereitet.

Nach der Tradition durften sich die Tschäggättä nur zwischen Mittag (12 Uhr) und Abendläuten oder Betzeitläuten (19 Uhr) sehen lassen. Bei ihren wilden Zügen durch die Lötschentaler Dörfer waren sie nicht organisiert. Man fand sie einzeln oder in Gruppen, teilweise rennend und mit ihren Kuhglocken lärmend oder still schleichend. Sie waren darauf bedacht, den Kindern und jungen Frauen Respekt beizubringen und/oder Angst einzuflössen. Die Opfer wurden oft mit Ruß geschwärzt, in welchen vorher die Handschuhe getaucht worden waren oder mit einem rußgefüllten Sack geschlagen. Auch sexuelle Nötigung war nicht selten. Diese führte nach Maurice Cappaz manchmal "über Jahre zum Verkehr (zehn Jahre und mehr), verheimlichter als alles Absinthtrinken ...".

alte Schmuck-Tschäggätta-Maske
Diese Maske ist eine Lötschentaler Schmuck-Maske, die nach über 35 Jahren ein paar Haare verloren hat, 21 cm hoch, ca. 1965 geschnitzt von Stefan Bloetzer (Lehrer, Bruder von Ida Bloetzer, in deren Hütte auf Faldum wir 1969 wohnten).

Das Schwärzen mit Ruß ist übrigens verwandt mit dem christlichen Bußritus des Aschenkreuzes, so dass man darin mehr sehen muß, als nur einen derben Scherz.

Maurice Cappaz schreibt zum Tschäggättun in seinem Buch "Lötschental – Die wilde Würde einer verlorenen Talschaft": "… Besser kann man die Macht der Fantasie, wie die der Kontestation, nicht kanalisieren, als durch die natürliche Anarche das Zusammenleben bekräftigen, dabei die alten Wahrheiten neu bestätigen. Die alten unterweisen den Trupp bei seinem Ausritt aus den Schulbänken. Sie geben die Legende weiter; die Jugend aber schwenkt die Masken."
So gesehen ist auch der wilde Brauch ein Teil einer Überlebens-Strategie und muss im Zusammenhang mit dem gesehen werden.


Tschäggätta
Abb. entnommen dem Buch "Tausend Grüße aus den Bergen – Das Lötschental auf alten Ansichtskarten",
Bilduntertitel: "Maskenfigur im Schweizerischen Museum für Volkskunde in Basel (Inv. VI 6718), aus Blatten erworben anno 1916."

Dadurch, dass dieser alte Brauch, wenn auch Zeitweise verboten, so doch nie reglementiert oder organisiert war, hat er sich zu allen Zeiten verändert – meist unter Berücksichtigung der alten, ungeschriebenen Regeln.

Auch über die Anfänge des "Tschäggättuns" gibt es keine schriftlichen Zeugnisse, wodurch Spekulationen der "Gelehrten" Tür und Tor offenstehen. Die ersten schriftlichen Aufzeichnungen finden sich im Pfarrarchiv von Kippel und stammen von Prior Gibsten. Dieser war von 1864 bis 1876 Pfarrer in Kippel und hat 'dieses unchristliche Treiben' mit einer Geldbusse von 50 Rappen an die Kirche belegt – zu einer Zeit, als 50 Rappen noch eine hohe Strafe waren.

Aber nicht nur im "Mittelalter" versuchte die Obrigkeit ihre Macht gegen diesen uralten Brauch zu mißbrauchen. Noch im Februar 1987 drohte die Gemeindeverwaltung von Wiler mit Anzeige und Strafverfahren bei Zuwiderhandlung ihrer Anordnungen. Lesen Sie genaueres hierzu unter www.masken.ch!

"Tschäggätta" hat wohl mit "gitschäggud" (gescheckt) zu tun. Bezeichnet der seltener gebrauchte Begriff "Roitschäggättä" (Rußgefleckten) aber die verkleideten Gestalten oder die von ihnen erwischten oder stammt er daher, dass die Masken in den Kamin gehängt wurden um sie zu schwärzen, dorthin, wo in manchen Hochtälern die Armen Seelen der Verstorbenen wohnten? Keiner kann es mehr mit Sicherheit sagen, wie auch die Bedeutungen anderer Lötschentaler Begriffe (Schurtendiebe, Dietrich-Lichtung) heute im Dunklen liegen.

Arven (Zirbelkiefern, lat.: Pinius cembra) sind der Föhre verwandte Nadelbäume, die in den Alpen und den Karpaten zwischen 1500 und 2500 m Höhe wachsen (die untere Arealgrenze wird durch die grössere Konkurrenzkraft der Fichte bestimmt). Ihr Holz ist weich, leicht zu verarbeiten und war wegen seiner Farbe und seines Geruches als Möbelholz und zum Täfeln von Stuben begehrt. Da Arven im Lötschental nicht in großer Zahl vorkommen, wurden für die Tschäggätta-Masken meist die weniger wertvollen Stücke (z. B. Stücke mit Ästen oder Wurzelholz) verwendet, was den Masken oft zu ihrem eigenen Aussehen verhalf. Neuere Masken werden sehr viel aufwendiger geschnitzt, sind aber in ihrer Ausdruckkraft nicht stärker als die alten.

Triämhändschen

"Triämhändschen" im Lötschentaler Museum

Die Tschäggättä sind der Lötschentaler Brauch, der weit über die Talgrenzen bekannt geworden ist. So waren Masken aus dem Lötschental z. B. die Attraktion in der vom 28. Januar bis zum 12. März 2000 im Kreismuseum in Zons am Niederrhein präsentierten Ausstellung "Fasnachtsmasken aus drei Schweizer Regionen".
Die Larven (Masken) sind Synonym für Urschweizer Brauchtum und werden auch in vielfältiger Form zu Werbezwecken genutzt.

Man sollte das Tschäggätun nicht als Fasnachtsbrauch bezeichnen. Es hat zwar letztendlich wohl die selben Ursprünge, ist in seiner besonderen Art aber eben etwas ganz anders, etwas spezielles.

Seit dem 23. Dezember 2007 kann man zum Thema Tschäggättä bei YouTube ein Video des Users "Schurtendieb" ansehen. Leider hat dieses Video, außer dass es ein paar alte Fotos zeigt, mit dem alten Brauch nichts zu tun. Es ist eine mit Heavy Metal-Musik unterlegte Verkaufsförderung. Auch die Maskenschnitzer – die es früher ja so nicht gab – leben vom Tourismus und seinem Bedürfnis nach Souvenirs.

Um einen besseren Eindruck von dem alten Brauch zu vermitteln, füge ich ein Zitat an, das ich im Buch "Tausend Grüsse aus den Bergen" von Franz Henzen und Werner Bellwald fand:

"Die heutigen Souveniermasken? Ah, das ist doch alles ein verfluchter Kitsch! Das hat keine Ahnung von einer Lötschentaler Larve. Die Lötschentaler Larve war nicht so sorgfältig geschnitzt und die damaligen hatten nicht einen solchen Ausdruck wie die heutigen. Auf jeder älteren Fotografie kannst du das sehen. Die Larven waren die Arbeit eines Laien. Jeder hat seine Maske selber geschnitzt. Das wollen die Leute heute nicht mehr wahrhaben, doch so ist es."

Bonifaz Ritler, Kippel, *1920 in Goppenstein

Seit das Tal gut mit der Außenwelt verbunden ist, führt die Tatsache, dass viele junge Männer erst abends von ihrer Arbeit wieder ins Tal zurückkehren, dazu, dass man die Tschäggättä tagsüber seltener antrifft. Die veränderten Lebensbedingungen verursachen so eine Aufweichung der alten Regeln, die auch dazu führt, dass sich heute oft auch verheiratete Männer und sogar Frauen als Tschäggätta verkleiden.

Leetschär Fasnacht 2015

Einer der Höhepunkt dieses Treibens ist heute der Fasnachtsumzug in Wiler am Samstag vor Aschermittwoch. Er dient aber immer mehr touristischen Zwecken und hat mit dem Ursprung nur noch wenig zu tun, auch wenn sich mancher gerne in der Tradition sieht. Man stellt sich wild dar, ist aber doch eher "gesittet" und unterliegt neuen Regeln. Inzwischen wird das Ganze als Event unter dem Namen "Leetschär Fasnacht" beworben und von Marktinggedanken gesteuert.

Agnes Rieder (eine Tschäggätta-Masken-Schnitzerin) hat in Wiler den Maskenkeller eingerichtet, den sie gegen Voranmeldung gerne zeigt (Telefon: 0 27 / 9 39 13 55).

Hier ein weiteres Video bei YouTube, das einen Eindruck des Ursprünglichen vermitteln könnte.

 

Die Abbildung der alten Masken ganz oben links ist entnommen dem Buch von Maurice Chappaz.

Die Maske mit Gamshörnern wurde 1980 von Hans-Peter Rieder aus Wiler geschnitzt und hängt im Lötschentaler Museum in Kippel.
Die kleine Maske auf weißem Grund wird dort (im Museum) als Schlüsselanhänger verkauft.
"Lötschy", der Tunnelgeist, ist das Maskottchen der BLS.

08.09.2003 – Letzte Aktualisierung dieser Seite: 31.07.2015 - © edgar droste-orlowski

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