Erste (Schweiz)-Reise

Am 29. Juli 1964 durfte ich mit Opa Kaufmann (dem Vater meiner Mutter) und meiner Schwester Angela in die Schweiz fahren. Mein erster großer Urlaub.
Vom Krefelder Hauptbahnhof ging es mit einem von einer Dampflok gezogenen Zug den Rhein entlang bis Basel und dann durch die Schweiz bis ins Lötschental.

Hab ich schon erzählt, dass mein Onkel Werner (der jüngere Bruder meiner Mutter) eine Schweizerin – Käthy Bloetzer – geheiratet hatte, die aus diesem Tal stammte?
Ihre Mutter – Theodosia Bloetzer – bewirtschaftete damals in diesem noch etwas unzugänglichen Rhone-Seitental noch eine Alphütte – auf der wunderschön gelegenen, zu Ferden gehörenden Faldumalp. Und dort, wie auf den anderen Alpen in diesem Tal, gab es damals noch einen funktionierenden Alpbetrieb wie anderenorts vor 100 Jahren. Die Wege zu den Alpen waren gerade so verbreitert und befestigt, dass die ersten Jeeps und landwirtschaftlichen Fahrzeuge zu den Alpen hinauffahren konnten.

Auf diese Alp fuhr uns drei Hans Bloetzer aus Ferden, der Bruder meiner Tante, mit seinem alten Jeep. Wir wohnten bei Tante Käthys Mutter in deren Hütte.
Diese Hütte bestand, wie die meisten anderen, aus zwei Räumen, einem Arbeitsraum mit Kochstelle und Tisch und einem Wohn- und Schlafraum. Vom Arbeitsraum hatte man noch Zugang zu einer kleinen Kammer, in der Milch gelagert wurde, Käse zum Reifen lag, andere Lebensmittel lagerten, aber auch das Butterfass und weitere Geräte aufbewahrt wurden.

Die Türe zur Hütte war so niedrig, dass mein Großvater und ich uns täglich mehrfach den Kopf stießen – auch, weil wir immer auf die erhöhte Schwelle traten. Bemerkenswert fand ich auch, dass die drei kleinen Fenster der Wohnstube (die anderen Räume waren fensterlos) nach außen aufgingen. Theodosia erklärte mir, dass sie so vom Wind, wenn er auf den Fenstern stehe, zugedrückt, statt geöffnet würden, und so die Stube wärmer bliebe.

Der Wohnraum konnte durch einen Kachelofen geheizt werden, der vom Arbeitsraum aus beheizt wurde – so blieb die Stube sauber. 'Geheizt' wurde die Stube auch durch den darunter liegenden Kuhstall (natürlich nur, wenn die Kühe darin standen).

Ich lernte, wie man mit einfachsten Mitteln einen ganzen Stadel vor Mäusen schützen kann: indem man auf die Pfähle, auf denen der Stadel steht, große Felsplatten legt, und den eigentlichen Stadel darauf baut.

Zum Waschen mußten wir einige Minuten laufen. Am Weg, der über den Faldumbach führt, gab es etwas abseits der Alp einen ausgehöhlten Baumstamm, der durch ein dünnes Rohr permanent mit Wasser gespeist wurde. Dort wuschen wir uns und die Milchkannen. Andere Sachen durften in dem Brunnen nicht gewaschen werden, dazu holte man dann das Wasser von hier.

Auch an das Plumpsklo – in einem separaten Häuschen und für die ganze Alp – mussten wir uns erst einmal gewöhnen. Man hatte seinen Körper so einzurichten, dass man möglichst nicht nachts raus musste: Draußen war es kalt und stockfinster, und man musste sich jedesmal fast komplett ankleiden.

Neben dem Plumpsklo gab es einen Schweinestall, einen kleinen Holzbau mit zwei Öffnungen: einer Türe und einem Schlitz über der Futterrinne. Hier wurden einige Schweine gemästet, von denen wir eigentlich nur die Schnauzen zu Gesicht bekamen, wenn sie diese in die Futterrinne steckten.

Große Schwierigkeiten machte am Anfang der harte Dialekt mit sehr vielen ganz eigenen Ausdrücken, aber es ging von Tag zu Tag besser und das Leben war nie so hektisch, dass man nicht – auch dreimal – nachfragen konnte.

Der Aufenthalt dort oben hat mich fürs Leben beindruckt. Am meisten hat mich beeindruckt, dass sich dort das ganze Leben nach den Kühen, der Lebensgrundlage, richtete – erst wenn das Vieh versorgt war, gab es für die Menschen etwas zu essen, Morgens wie Abends.

Natürlich war es auch beeindruckend, von oben auf Flugzeuge zu sehen und zu erleben, dass man über der Wolkendecke stehen kann. Damals lernte ich die Berge kennen und lieben – weit weg von allen Touristen, die es damals in diesem Tal nur recht vereinzelt gab, da es vom Rhonetal nur durch eine schmale, durch Steinschlag und Lawinen gefährdete Schlucht erreichbar war – und natürlich per Zug durch den Lötschbergtunnel, den damals mit über 14 Kilometern drittlängsten Alpentunnel, der direkt unter der Faldumalp verläuft, auf der man nachts (ganz leise) die Züge dort unten rollen hören konnte.

Trotz des Fahrweges wurde noch viel zu Fuß auf den alten Wegen den Berg hinauf zur Alp bzw. von hier ins Tal nach Ferden geschafft. Das war jedesmal ein anstrengender, vielstündiger Marsch, den wir auch einmal mitmachen durften. Auf dem Weg zur Alp hoch, brachte Theodosia uns Stadkindern bei, wie man in den Bergen läuft: kleine Schritte und sehr gleichmäßig.
Wenn man darauf achtete, stellte man fest, dass die Schritte mit zunehmendem Alter kleiner wurden, viel langsamer waren die älteren deswegen aber nicht.

Von Hakenkreuzen hatte ich bisher nur gehört – immer im Zusammenhang mit dem Nationalsozialismus. Hier sah ich zum ersten Mal welche – eingebrannt in die Stiele alter Rechen, Äxte und anderer Werkzeuge. Auf meine Frage erklärte mir Käthys Mutter, dass dies ein uraltes Sonnenzeichen sei, dass seit vielen Generationen die Werkzeuge ihrer Familie kennzeichne. Seit dem hat das Zeichen für mich seinen Schrecken verloren. Es ist eine alte Rune wie alle anderen, die erst im Zusammenhang mit Politik zum Schreckgespenst wird. Später entdeckte ich auf Werkzeugen anderer Familien andere alte Eigentums-Zeichen.

Wie hart das Leben im Lötschental ist, konnten wir damals täglich erfahren, da wir von Anfang an mit eingespannt wurden. Ich ging auch mit zum 'burdinun': Das Heu wurde mit einem Strick, an dessen einem Ende ein spezieller Holzdorn befestigt war, zu großen Bündeln zusammengebunden und diese dann auf dem Kopf zur nächsten Scheune den Berg hinauf getragen. Auf dem Kopf trugen wir dazu weiße Kapuzen – eigentlich weiße Säcke, deren einer Zipfel in den anderen gesteckt eine Art Kapputze ergaben –, die bis über die Schultern reichten. Das Heu den Berg hinauf zu Tragen war nicht nur Schwerstarbeit, ich war auch froh und stolz, dass man es mir zutraute und dass ich es schaffte. Natürlich waren meine Burdin ein wenig kleiner als die der Erwachsenen, die Männer hatten sicher so an die vier Kubikmeter oder mehr auf dem Kopf.

Das Treiben der Kühe – morgens in das hinter der Alm liegende Hochtal und abends von dort zurück in den Stall –, dass wir Kinder vom ersten Tag an übernahmen (wir liefen einfach mit den Frauen, den anderen Kindern und Kühen mit) war schon jedesmal eine kleine Wanderung. Darüber hinaus unternahmen wir einige schöne Bergwanderungen auf uralten, schmalen Pfaden. Irgendwie war es besser, als auf einem gepflegten, breiten Bürgersteig zu laufen. Der Gipfel des Niven war der erste, den ich bestieg und die Aussicht war grandios. Seitdem treibt es mich nach oben. Dahin, wo man sich hinsetzen kann und sterben könnte.


08.09.2003 - Letzte Aktualisierung dieser Seite: 04.08.2015 - © edgar droste-orlowski

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